• Auf den Spuren der Steine des Gedenkens

    Das Weißgerberviertel im Bezirk Landstraße war einmal ein Zentrum des jüdischen Lebens, dessen Spuren fast völlig aus dem Stadtbild verschwunden sind. Der Spaziergang führt entlang der Steine des Gedenkens zu ehemaligen jüdischen Stätten wie Schulen, Vereinen, Geschäften sowie Bethäusern und erzählt deren Geschichte. Im Fokus stehen die Menschen, die hier gelebt und gewirkt haben – darunter einige Prominente wie Karl Kraus oder Elias Canetti, aber auch völlig unbekannte Namen. Viele sind der Shoa zum Opfer gefallen oder wurden aus Wien vertrieben. Ein unwiederbringlicher Verlust für unsere Stadt.

    • Termin: Mittwoch, 11. September 2024 von 15.00-17.00 Uhr
    • Kosten: 5 Euro
    • Anmeldung: dreier@steinedesgedenkens.at
    • Treffpunkt: beim Haupteingang vom Bundesrealgymnasium Radetzkystraße, Hintere Zollamtstraße 7, 1030 Wien
    • Ende: Hundertwasserhaus, Kegelgasse 36-38, 1030 Wien
  • Alle Fotos: © Dieter Nagl

  • Wir haben als Verein am 12. November 2022 an dem Gedenkspaziergang Mechaye Hametim teilgenommen. Der Veranstalter, das Forum der Zivilgesellschaft hat den Spaziergang nochmal in einem ausführlichen Text mit vielen Informationen und der diesjährige Route aufleben lassen. Sie finden diesen als Blogbeitrag auf: http://www.ash-forum.at/site/blog/artikel/article/182.html

    Anbei die Route und das Gedicht von Walter Lindenbaum, das in der Nähe des Westbahnhofs vorgetragen wurde.

    Die Route des Gedenkspaziergangs

    Walter Lindenbaum:
    „Juden am Bahnhof“

    Aus: Walter Lindenbaum, Von Sehnsucht wird man hier nicht fett. Texte aus einem jüdischen Leben, hrsg. v. Herbert Exenberger und Eckart Früh, Wien: Mandelbaum 1998, S. 78 ff.

    Bahnhofstelle. Kofferträger. Menschenmenge. Lärm. Geschrei.
    „Nächster Zug geht neunzehn zwanzig, drüben – auf Gleis zwei.“
    Eine Viertelstunde Zeit noch und dann dampft der Zug davon.
    Ach, wer kennt nicht dieses Warten, dumpf und bang auf dem Perron.
    Auf der Bahnhofsuhr die Zeiger kriechen unbarmherzig kalt,
    Denn die Zeit kennt keine Ruhe und keinen Aufenthalt.
    Händedrücke, Segenswünsche. Wehmut jedes Herz befällt.
    Was ist los? Nichts. Ein paar Juden fahren in die weite Welt.

    Eine alte Frau schluchzt leise und sie streichelt ihren Sohn:
    „Schreib sofort, Mama. Du weißt doch“ – kleine Szene am Perron.
    Nebenan da steht ein Mäderl, das vielleicht vier Jahre alt,
    An der Mutter Schoß geklammert, sucht die Kleine ängstlich Halt.
    Ahnt sie, daß der Vater wegfährt? Wann sie ihn wohl wiedersieht?
    Kleines Mädchen, du bist glücklich, weißt nicht, was um dich geschieht.
    Und der Gatte krampfhaft lächelnd Frau und Kind umfangen hält.
    Was ist los? Nichts. Ein paar Juden fahren in die weite Welt.

    Und es fliehen die Minuten, unerbittlich ist die Uhr.
    Diese letzte kleine Frist wird den Menschen zur Tortur.
    Soviel möchte man noch sagen, jeder Satz wird hier zur Qual.
    Und aus Angst, banal zu werden, wird man schließlich doch banal.
    „Hast du einen Platz beim Fenster? Besuch‘ die Tante in Brooklyn!
    Brot und Wurst lieg’n oben im Koffer – Fühlst du, wie ich traurig bin?“
    Sätze klingen oft belanglos, wenn man seinen Schmerz verstellt.
    Was ist los? Nichts. Ein paar Juden fahren in die weite Welt.

    Türen werden zugeschlagen und der Zug fährt langsam ab.
    In den Augen brennen Tränen, mit dem Zug läuft man im Trab.
    Noch einmal sucht man das Antlitz zu erhaschen, rasch im Flug.
    Winkt verzweifelt, stammelt Worte, immer schneller fährt der Zug.
    Und dann ist er jäh entschwunden, ach er ist ein Pünktchen schon,
    Und noch immer stehn die Menschen und sie winken am Perron.
    Und sie winken und sie starren und ihr Blick ist schmerzentstellt.
    Was ist los? Nichts. Ein paar Juden fahren in die weite Welt.

    Unbarmherzig ist das Schicksal, treibt uns Juden hin und her.
    Immer steh’n wir wo am Bahnhof, immer fällt der Abschied schwer.
    Und Familien, sie zerfallen, der bleibt hier und der fährt fort.
    Bahnhof, Bahnhof, wieviel Tragik liegt in diesem kleinen Wort!
    Ungewiß ist uns’re Zukunft, uns’re Reise ist so lang.
    Ist denn unser ganzes Leben nur ein ew’ger Schienenstrang?
    Und der Pfiff des fernen Zuges jetzt in meinem Ohr noch gellt.
    Was ist los? Nichts. Ein paar Juden fahren in die weite Welt.

  • Wiener Zeitung, 06.11.2021 Der Autor: Fritz Rubin-Bittmann wurde 1944 in Wien als Sohn jüdischer Eltern geboren und überlebte als „U-Boot“. Er ist Arzt für Allgemeinmedizin (2016 mit dem Berufstitel Professor ausgezeichnet) und hat zu Zeitgeschichte und Religionsphilosophie publiziert.

    Auch in Wien wird wieder des Novemberpogroms 1938 gedacht. De facto begann mit der Reichskristallnacht die Shoah.

    Die umgekehrte Pieta (ein Mann betrauert eine Frau) ist im November in der Ruprechtskirche platziert.© Julia Oppermann

    Eine Frau liegt auf dem Boden, dahinter kniet ein Mann in Trauer. Die umgekehrte Pieta des Südtirolers Lois Anvidalfarei animiert zur „Auseinandersetzung und Begegnung mit dem unsäglichen Leid, das Menschen anderen angetan haben und antun, aber auch mit dem was im Letzten nicht zerstörbar ist: der Würde des Menschen.“ So steht es im Begleittext zur Kunstinstallation, die im November in der Ruprechtskirche, der ältesten Kirche Wiens, platziert ist.

    Zeitpunkt und Ort sind wohlüberlegt. Die Pieta bildete schon den Hintergrund für die Fotos von der Trauerfeier der heimischen Spitzenpolitik in der Ruprechtskirche für die Opfer der Wiener Terrornacht am 2. November 2020, die genau in diesem Grätzl hinter dem Schwedenplatz stattgefunden hat. Und sie passt auch zum zweiten Gedenken in diesen Tagen, bei dem weiter zurückgeblickt wird in der Geschichte. Denn schräg vis-à-vis steht der Stadttempel, die einzige jüdische Synagoge in Wien, die das Novemberpogrom 1938 überdauert hat. Und am nahen Morzinplatz hatte die Gestapo ihr Hauptquartier. Am 9. und 10. November 1938 wurden allein in Wien 42 Synagogen zerstört.

    Das Novemberpogrom markierte einen Wendepunkt in der nationalsozialistischen Judenpolitik. Die Gewaltexzesse, die sich in aller Öffentlichkeit ereigneten, waren Auftakt und Vorboten der „Endlösung“, der sechs Millionen Juden zum Opfer fielen. De facto begann mit der sogenannten Reichskristallnacht die Shoah. Auf Befehl Adolf Hitlers war im Sommer 1938 in München die Hauptsynagoge – ein repräsentativer Bau, den er als widerwärtig und für Deutsche unzumutbar empfand – abgerissen worden. Dieser Willkürakt hatte im darauffolgenden November zweifelsohne Signalwirkung.

    Kurt Yakov Tutter, Initiator der Namensmauern

    Der (bereits ausgebuchte) „Gedenkachtelmarathon“ diesen Samstag ab 11 Uhr führt zu symbolischen Orten der Judenverfolgung in Wien, von der Pauluskirche am Sebastianplatz im 3. Bezirk über die Lutherische Stadtkirche im 1. Bezirk zur ehemaligen Synagoge in der Unteren Viaduktgasse im 3. Bezirk und in die Kegelgasse zur Gedenktafel an die Wiener Gesera vom 12. Mai 1421, als im Rahmen der völligen Auslöschung allen jüdischen Lebens in Österreich mehr als 200 Juden auf der Erdberger Gänseweise verbrannt wurden (Info: www.ash-forum.at).

    Diesen Sonntag ab 14 Uhr lädt das Projekt „Schweigend in der Kunst und durch die Kunst begegnen“ zu einer öffentlichen Schweige-Malaktion an der Kreuzung Stumpergasse/Schmalzhofgasse/Mittelgasse. Der Ort ist kein Zufall: Adolf Hitler wohnte hier 1907 und 1908. Und eine Lichtstele in der Stumpergasse 42 markiert den Standort der beim Novemberprogrom zerstörten Stumper-Schule. In der Galerie Eisenwaren Kamp (Stumpergasse 23) gibt es eine Präsentation der beteiligten Künstler.

    Am 10. November spricht Wolfgang Huber bei der „Akademie am Dom“ über seinen Vater, den 1943 ermordeten Münchner Uni-Professor und Widerstandskämpfer Kurt Huber (Info: www.theologischekurse.at).

    Das Votivkino zeigt am 15. November den 2020 erschienenen Film „Liebe war es nie“ über die verbotene Beziehung einer jüdischen KZ-Insassin in Auschwitz zu einem SS-Offizier, die einander 30 Jahre später vor Gericht wieder begegnen – dazu gibt es ein Gespräch mit dem Filmproduzenten Kurt Langbein (Info: www.votivkino.at).

    Judenfeindschaft und Profitgier

    Die Aggression gegen Juden hatte sich mit dem „Anschluss“ im März 1938 intensiviert. In Österreich war der Antisemitismus wesentlich stärker ausgeprägt als im Deutschen Reich. Aus anfänglichen Diskriminierungen wurden dann Ausschreitungen voller Brutalität, Demütigungen, Raub und Plünderungen. Juden wurden zum Freiwild und waren der Willkür und Grausamkeit des marodierenden Mobs permanent ausgesetzt. Im Sommer 1938 gab es Übergriffe gegen Synagogen und Geschäfte sowie Hausdurchsuchungen in jüdischen Wohnungen. Der Antisemitismus war Staatsdoktrin – die Judenpolitik stand im Mittelpunkt der sozialdarwinistisch-rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus. Entrechtung, Enteignung und letztlich Eliminierung der Juden waren Konsequenz und Programm.

    Verdeckt sind dabei Profitgier und Bereicherung durch Nationalsozialisten und Kollaborateure. Die Ausschaltung der Juden brachte zahlreichen Bürgern beachtliche Vorteile: Akademiker profitierten von der Entlassung jüdischer Professoren, Beamten und Lehrern; Ärzte und Apotheker entledigten sich jüdischer Konkurrenz; Studenten waren froh, jüdische Kommilitonen loszuwerden und nach dem Studium gute Positionen zu erlangen; hohe Parteifunktionäre, einflussreiche Nazis und Persönlichkeiten aus Industrie und Wirtschaft rissen infolge der Arisierungen von Fabriken, Unternehmungen, Geschäften und Immobilien jüdischen Besitz an sich. Nichtjüdische Künstler wurden über Nacht zu den einzigen Trägern deutscher Kunst und Kultur.

    Die unteren NS-Schichten – insbesondere die SA-Leute waren nicht im gewünschten Ausmaß zum Zug gekommen – fühlten sich um ihren Anteil betrogen. Die Reichskristallnacht bot ihnen die Gelegenheit, Versäumtes nachzuholen. Es wurde geplündert, geraubt, gestohlen, vergewaltigt, gemordet – auch „freundliche Nachbarn“ und biedere Bürger machten mit. Die prominente Psychoanalytikerin Erika Freeman berichtet von einem Vorfall in ihrem Elternhaus am 10. November 1938: Nachbarn, die als besonders nett und höflich galten, betraten die Wohnung grußlos, nahmen Bilder, Teppiche und Antiquitäten und forderten ihre Mutter auf, am nächsten Tag die Wohnung zu übergeben. Nach dem Pogrom wurde im gesamten Deutschen Reich jüdischer Besitz in Messehallen verschleudert. Und die Käufer wussten, dass es sich um jüdischen Besitz handelte.

    Göbbels, der Organisator

    Äußerer Anlass des Novemberpogroms war Herschel Grynszpans Attentat am 7. November 1938. Der 17-Jährige wollte den deutschen Botschafter in Paris erschießen, traf aber Legationsrat Ernst von Rath, der am 9. November verstarb. Grynszpans Motiv war Rache für Gewalttaten an seiner Familie und die Welt auf das Elend von 17.000 polnischen Juden aufmerksam zu machen, die Deutschland über Nacht ausgewiesen hatte. Polen nahm sie nicht auf, ins Deutsche Reich konnten sie nicht zurück, und so kampierten sie im Niemandsland bei Kälte und Regen ohne Nahrung einige Tage auf dem freien Feld.

    Hitler war an diesem 9. November in München bei einem Treffen der alten Kämpfer im Alten Rathaus zum Gedenken an die Gefallenen des Novemberputsches von 1923. Als er von Raths Tod erfuhr, verließ er die Versammlung und überließ Joseph Goebbels alles Weitere. Dieser organisierte mit den anwesenden NSDAP-Granden das Novemberpogrom als Ausdruck des „berechtigten Volkszornes der Deutschen gegen die Verschwörung des Weltjudentums“. Offiziell sollten sich SA, SS und NSDAP passiv verhalten und das Volk walten lassen, doch ihre Mitglieder sollten sich in Zivil beteiligen. Die SA-Rabauken ignorierten den Befehl: Sie drangen in Uniform mit Rufen wie „Juda, verrecke!“ in die Wohnungen der Juden ein und verprügelten die Menschen, viele zu Tode. Frauen wurden vergewaltigt, Hab und Gut geraubt. Der entfesselte Mob war in seiner Zerstörungswut nicht zu bremsen.

    Auch in Wien wurden Handgranaten und Brandbomben in die Bethäuser geworfen, die bis auf die Grundmauern abbrannten. Für die Zuschauer war es ein Spektakel und manchmal ein Freudenfest. Benno Kern erlebte als Elfjähriger Grauen und Grausamkeit des 10. November in Wien. Wie jeden Tag ging er von der Krummbaumgasse zur Talmud-Torah-Schule in die Malzgasse – ein Gehweg von zehn Minuten -, als ihm Kinder entgegengelaufen kamen, die aufgeregt schrien: „Die SA demoliert die Schule, alles ist verwüstet!“

    Vor dem Polizeikommissariat Leopoldstadt sah er zahlreiche Arrestantenwagen; in der Schule angekommen, hörte er fürchterlichen Lärm und Getöse. Die Einrichtung wurde kurz und klein geschlagen, Direktor Joel Pollak lag bewusstlos in seinem Blut. Er war – so wie auch alle anderen Lehrer – zusammengeschlagen worden, und ein SA-Mann hatte ihn mit dem Stiefel ins Gesicht getreten. Die jüdischen Kinder strömten aus der Schule, die Hitlerjugend machte mit Stöcken und Steinen Jagd auf sie. Benno rannte um sein Leben. Ein arischer Kohlenhändler trat aus dem Geschäft, stellte ihm ein Bein, er fiel, die Meute stürzte sich auf ihn und schlug auf ihn ein. Er entkam mit knapper Not. Am Ort des Überfalls ließ Benno Kern später eine Erinnerungsplakette anbringen. Und vor wenigen Wochen hat er genau dort eine von ihm aus Dank an Gott gespendete handgeschriebene Torah-Rolle (die Herstellung dauerte gut ein Jahr) segnen lassen, mit der er jene Orte des Grauens im Karmeliterviertel aufgesucht hat, an denen 1938 rund 40 Juden umgebracht wurden. Insgesamt wurden in der Shoah mehr als 64.000 österreichische Juden ermordet. An sie erinnert zusätzlich zum Mahnmal auf dem Wiener Judenplatz neuerdings auch eine Namensmauer im Ostarrichipark nahe der Nationalbank.

    Shoah Namensmauern Gedenkstätte

    Feuer und Massenverhaftungen

    Damals waren 90 Prozent der Wohnungen im Karmeliterviertel jüdisch; die meisten zerborstenen Fenster gehörten Juden. Benno sah Burschen mit Steinschleudern und Frauen mit Kübeln voller Steine. Andere feuerten die SA-Leute zu weiteren Gewalttaten an den bereits geschundenen Menschen an. Rabbiner wurden an den Bärten gerissen, alte Juden mussten Liegestütze oder Kniebeugen machen, und wenn sie kraftlos hinsanken, wurden sie mit Stiefeln getreten. HJ-Burschen und SA-Leute urinierten unter dem Gejohle der Menge auf ausgebreitete Torah-Rollen und führten Freudentänze auf den Heiligen Schriften auf. Kultgegenstände wurden zerstört. Auch die Kinder beteiligten sich; es war für sie wie ein Schlaraffenland. Sie brachen in Zuckerlgeschäfte und Spielwarengeschäfte der Juden ein und nahmen, was ihnen gefiel. In der Herminengasse wurde unter Freudenrufen der Gaffer ein Scheiterhaufen aus Torah-Rollen, Talmud-Folianten und Gebetbüchern entzündet.

    Der große Stadttempel in der Seitenstettengasse im 1. Bezirk wurde wegen der angrenzenden nichtjüdischen Gebäude nicht zerstört, aber innen unter Führung Adolf Eichmanns komplett verwüstet. Im 3. Bezirk leitete Otto Skorzeny, der spätere Befreier Benito Mussolinis, die Zerstörung von Bethäusern und Synagogen. Die Polizei war angewiesen, nicht einzuschreiten; die Feuerwehr löschte nur, wenn Brandgefahr für nichtjüdische Einrichtungen drohte.

    Im gesamten Deutschen Reich wurden 35.000 Juden unter Hohn, Spott, Fußtritten, Peitschenhieben und äußerster Brutalität verhaftet, gequält und in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald und Oranienburg gebracht. Die unbeschreiblichen Grausamkeiten im KZ hat der Historiker Eugen Kogon dokumentiert: „Menschen wurden zu Tode geprügelt, mussten nächtelang in der Kälte am Appellplatz stehen, sodass Gliedmaßen abfroren. Mit bloßen Händen mussten sie den Schnee im Lager räumen, Notamputationen der erfrorenen Gliedmaßen verweigerten SS-Ärzte im KZ Buchenwald: ,Für Juden werden nur Totenscheine ausgestellt. Das KZ ist kein Sanatorium, sondern ein Friedhof.‘“ Zahlreiche Juden sahen in dieser Situation keinen anderen Ausweg als Suizid.

    Die neue Shoah-Namensmauer im Ostarrichipark wird am 9. November eingeweiht. Das Mahnmal für die mehr als 64.000 ermordeten österreichischen Juden hat der Holocaust-Überlebende Kurt Yakov Tutter initiiert. – © Nationalfonds

    Als der spätere Vizekanzler und SPÖ-Chef Bruno Pittermann mit seiner jüdischen Gattin, von der er sich nicht scheiden ließ und die durch ihren arischen Ehemann geschützt war, am Tag nach der Reichskristallnacht Adolf Schärf und seine Frau besuchte und sich schockiert zeigten, meinte der spätere Bundespräsident: „Was auch immer Nichtjuden Juden antun, ist nicht so schlimm wie das, was Juden Nichtjuden antun.“

    NS-Generalfeldmarschall Hermann Göring war über die Zerstörung wichtiger Wirtschaftsgüter empört und sagte zu General Reinhard Heydrich: „Es wäre besser gewesen, zweihundert Juden mehr umzubringen, als solchen wirtschaftlichen Schaden anzurichten.“ In einer Sitzung der NS-Größen am 12. November im Reichsluftfahrtministerium wurde beschlossen, die Juden zur Gänze aus dem Wirtschaftsleben auszuschließen und das Deutsche Reich „judenrein“ zu machen. Ihnen wurde eine Sühneleistung von einer Milliarde Reichsmark für die Pogromschäden auferlegt; viele Geschäftslokale gehörten Ariern, die Juden waren nur Mieter. De facto finanzierten sie mit der Sühneleistung die auch gegen sie gerichteten Kriegsvorbereitungen mit. Die ausbezahlten Versicherungssummen betrugen etwa 250 Millionen Reichsmark. Die belgische Glasproduktion lief auf Hochtouren, da Deutschland mangels Rohstoffen selbst nicht genug Glas herstellen konnte.

    Auf der Flucht eingeholt

    Die Auswanderung der Juden wurde forciert; nach etwa vier bis sechs Monaten kamen KZ-Häftlinge frei, wenn sie erklärten, unter Zurücklassung ihres Vermögens Deutschland in kürzester Zeit zu verlassen. Görings Devise lautete: „Der Jud muss weg, sein Gerstl bleibt da.“ Für viele war es nur eine Flucht auf Zeit, denn mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kamen sie in den Ländern, in denen sie gelandet waren, wieder in die Gewalt der Nationalsozialisten.

    So erging es auch Benno Kerns Familie, die erst illegal nach Belgien zu Verwandten flüchtete. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen ging es mit vielen Hürden weiter ins besetzte Frankreich, bis sie ins Vichy-Frankreich gelangte und hoffte, endlich frei zu sein – ein Irrtum, denn die französische Polizei lieferte Juden, die keine Franzosen waren, an die Gestapo aus. Familie Kern landete in Auschwitz, wo nur Benno und sein Vater überlebten. Auf dem Todesmarsch von Auschwitz ins KZ Buchenwald, wo von rund 6.000 Juden nur rund 600 lebend ankamen, starb auch Bennos Vater.

    Großbritannien nahm 10.000 jüdische Kinder auf. Vielen Juden gelang es, nach Shanghai oder Südamerika zu entkommen, vielfach durch Bestechung der Konsularbeamten. Die USA hingegen lehnten mehr als 120.000 jüdische Einreiseanträge ab. Außenminister Cordell Hull und Unterstaatssekretär Breckinridge Long wiesen die Konsularbeamten an, Visa-Ausstellungen mit allerlei Ausflüchten zu verzögern, um die Menschen zu demoralisieren. Nächtelang bildeten sich Schlangen vor den Konsulaten, die von antisemitischen Schlägertrupps drangsaliert wurden. Punkt 12 Uhr schlossen die Konsulate, und nur ein Bruchteil der Wartenden bekam Visa. Hull verhinderte unter anderem die Einreise von rund 20.000 jüdischen Kindern in die USA. Long verheimlichte Informationen über die Vernichtung der polnischen und russischen Juden. Er gab falsche Informationen an die US-Medien und bezeichnete Berichte über Vergasungen als überzogene jüdische Propaganda. Er sabotierte jahrelang Rettungsbemühungen und sorgte dafür, dass selbst die geringen jährlichen Einreisequoten für Juden nicht ausgeschöpft wurden.

    Das Schweigen der Kirchen

    Kein hochrangiger Vertreter einer christlichen Kirche protestierte öffentlich gegen die Judenverfolgung. Weder der Boykott am 1. April 1933 noch die Nürnberger Rassengesetze vom 15. September 1935 oder das Novemberpogrom 1938 bewirkten ein Engagement für die Verfolgten und Ausgegrenzten. Der evangelische Bischof Otto Dibelius begrüßte gar die Ausschaltung der Juden mit dem Hinweis, dass am 10. November der Geburtstag Martin Luthers gefeiert werde; darin liege eine Symbolik, da Luther das Judentum bekämpft und die Juden als Feinde Christi bezeichnet habe. Auch prominente Repräsentanten der katholischen Kirche schwiegen. Sie waren teils ebenfalls vom Antijudaismus des augustinischen Weltbildes geprägt.

    Lediglich der Berliner Domprobst Bernhard Lichtenberg betete öffentlich für die Juden und protestierte von der Kanzel gegen die Pogromnacht: „Brennende Synagogen sind brennende Gotteshäuser.“ Auf protestantischer Seite nahmen Dietrich Bonhoeffer, Martin Niemöller und Martin Gollwitzer in Fürbitten, Gebeten und Predigten öffentlich für die Verfolgten Stellung. Empathie für die Juden war aber insgesamt selten. Es gab jedoch auch immer wieder Menschen, die Zivilcourage zeigten und trotz aller Gefahren jüdischen Freunden und Nachbarn halfen. Ein leuchtendes Beispiel war die Autorin Irene Harand. Deren Einsatz gegen Hitler und den Nationalsozialismus und für die Juden schildert Erika Weinzierl in ihrem Buch „Zu wenig Gerechte“.

    Die Auswanderung der Juden unter Zurücklassung ihres Vermögens führte der SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in der Zentralstelle für Auswanderung im ehemaligen Rothschild-Palais in Wien rigoros und effizient durch. Von 1938 bis 1939 emigrierten etwa 125.000 österreichische Juden, während von 1933 bis 1938 nur 18.000 Juden das Deutsche Reich verließen. Nach dem Pogrom verstärkte sich auch die Auswanderung der deutschen Juden. Besitzlos und ausgeplündert, konnten sie nur ihr nacktes Leben retten. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde diese Auswanderung dann gestoppt und die „Endlösung“ favorisiert. Das Novemberpogrom war somit Auftakt und Fanal der Shoah mit sechs Millionen ermordeten Juden.

    Fritz Rubin-Bittmann wurde 1944 in Wien als Sohn jüdischer Eltern geboren und überlebte als „U-Boot“. Er ist Arzt für Allgemeinmedizin (2016 mit dem Berufstitel Professor ausgezeichnet) und hat zu Zeitgeschichte und Religionsphilosophie publiziert.

  • Wie die Bewohner eines französischen Dorfes tausende als Juden verfolgte Menschen vor den Nazis retteten.

    Artikel in der Wiener Zeitung vom 24. Juli 2021:

    (https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/reflexionen/vermessungen/2113588-Das-Wunder-von-Le-Chambon-sur-Lignon.html)

    Diese Fünf-Zeilen-Meldung kam, mehr als Kuriosum denn als wichtige Ergänzung zur Zeitgeschichte, rund um den Jahreswechsel 2020/21 in die internationalen Medien: Ein Wiener, der vor Jahrzehnten nach Frankreich geheiratet hatte, vermachte einer Ortschaft in den Bergen sein Vermögen. Das beschenkte 2.500-Einwohner-Dorf im Massif Central, auf einem Hochplateau auf 960 Metern im Süden Frankreichs, heißt Le Chambon sur Lignon in der Haute Loire. Wer es auf der Landkarte sucht, findet es nahe (südwestlich) von Lyon und St. Etienne, noch näher bei Le Puyen-Velay.

    „Hier liebt man Juden“

    Die Lebensgeschichten des posthumen Spenders und der Bewohner des malerischen Dorfes treffen während des Zweiten Weltkriegs aufeinander, nachdem Hitler die lückenlose Verfolgung jüdischer Menschen ins Programm genommen hatte und das Ehepaar Oskar und Malcie Schwam mit Söhnchen Erich aus Österreich flüchten musste. Und (um es unzulässig kurz zu machen) nach Le Chambon sur Lignon kam.

    In der kleinen calvinistischen Gemeinde, zu der auch umliegende Dörfer des Plateaus gehören, war es dem pazifistischen Pfarrer André Trocmé gelungen, der Bevölkerung klarzumachen, dass die Menschenjagden und Mordmaschinen aus Deutschland hier nicht funktionieren dürften. Und zwar im Namen des Glaubens und der Menschlichkeit und auch, weil es hier noch Höhlen gab, in denen sich die Vorfahren der Einwohner, verfolgte Hugenotten, geheim zu Gottesdiensten getroffen hatten.

    Pastor André Trocmé (1901-1971). 
- © Public Domain / via Wikimedia Commons / Autor unbekannt
    Pastor André Trocmé (1901-1971).- © Public Domain / via Wikimedia Commons / Autor unbekannt

    Für die tiefreligiöse Bevölkerung dürfte es auch eine Rolle gespielt haben, dass es sich bei den Hilfesuchenden hauptsächlich um Angehörige des „von Gott auserwählten Volkes“ gehandelt hat. Die Parole war: „Ici, on a aimé les Juifs„, hier liebt man die Juden! Womit Pastor Trocmé und seine Familie und die Bevölkerung des ganzen Hochplateaus unglaubliche ethische Geschichte geschrieben haben.

    Unter den tausenden jüdischen Emigranten, die nach oder durch Frankreich geflohen waren, teils in der Hoffnung, dort ein Hochseeschiff besteigen zu können, war das Wunder von Le Chambon bald bekannt und ein Nahziel, um zum Beispiel in die neutrale Schweiz zu gelangen.

    Die Bürger von Chambon haben ausnahmslos alle Flüchtlinge, oft ganze Familien, freundlich aufgenommen. Da gab es eine ausgeklügelte Organisation, ein Netzwerk der Menschlichkeit. Jeder Bürger im Dorf hat seine Funktion erfüllt. Einer wusste immer, wo Betten frei waren, ein anderer wusste, wer mit wem zusammenpasste, andere führten die Verängstigten durch den Wald zu den Bauernhöfen, zu Schulen oder Kinderheimen, wo sie bleiben konnten. Meist war es Trocmé selbst, der falsche Papiere besorgt hatte. Einer warnte vor Gendarmerie oder SS. Wieder andere führten Gruppen in die neutrale Schweiz (wo es auch vorgekommen ist, dass die Schweizer Grenzer die Flüchtlinge an die Deutschen auslieferten). Wenn sie Juden über die 300 Kilometer zur Schweiz eskortiert haben, taten sie das im Bewusstsein, dass sie den selben Weg gingen, den schon ihre hugenottischen Vorfahren geflohen waren.

    1942 war Albert Camus etwa ein Jahr lang nahe bei Le Chambon. Dort fing er an, „Die Pest“ zu schreiben, und in Teilen sind die Ereignisse von Chambon darin eingearbeitet.

    Flüchtlinge aus Wien

    Greta Mautner (links), die Mutter des Autors, sein Bruder Egon und das Ehepaar Brottes. 
- © E.F. Mautner
    Greta Mautner (links), die Mutter des Autors, sein Bruder Egon und das Ehepaar Brottes.- © E.F. Mautner

    In Chambon waren zu dieser Zeit auch Flüchtlinge aus Wien wie die Hamkers und Hilde Höfert, der spätere Künstler Kurt Conrad Loew, die Familie (meine Familie) des Arztes Dr. Walter Mautner mit Frau Grete und dem Buben Egon (der eine Woche vor dem deutschen Einmarsch in Österreich geboren wurde). Oder eben das Schulkind Erich Schwam mit seinen Eltern.

    Die ebenfalls aus Wien stammende Künstlerin Elizabeth Koenig-Kaufman, eines der Kinder, das hier überleben durfte und nach dem Krieg in die USA ausgewandert war, schilderte die Stimmung später so: „Nobody asked who was Jewish and who was not. Nobody asked where you were from. Nobody asked who your father was or if you could pay. They just accepted each of us, taking us in with warmth, sheltering children, often without their parents – children who cried in the night from nightmares.“

    1940 bis 1944 war es das Régime de Vichy, das die Ziele der Nazis vielfach gnadenloser umgesetzt hatte als die Besatzer selbst, dann waren es die nachrückenden deutschen Soldaten, die die motivierten Einwohner beharrlich auszutricksen hatten.

    Das bis heute Erstaunliche war, dass es den Nationalsozialisten nicht verborgen geblieben sein konnte, dass hier gut 5.000 Menschen versteckt worden waren. Wenn jemand angehalten und gefragt wurde, was an sich schon gefährlich war, wo da Juden versteckt würden, so antworteten die Leute meist: „Juden? Was ist das? Nie gesehen!“, oder ähnlich.

    Diese Idylle hielt nicht bis zur Befreiung. Wie überall, wo die braunen Stiefel auftraten, mussten auch mutige Bürger dieses Örtchens ihr Leben für ihre Hilfsleistungen opfern. Ihre Schicksale sind aufgezeichnet.

    Heimliche Warnungen

    Es waren vor allem Scharen jüdischer Kinder, die in Heimen betreut wurden, manche von schweizerischen Stiftungen finanziert. Die Nazis scheuten keine Mühen, gezielt kleine Kinder aufzuspüren beziehungsweise zu jagen, um sie zu ermorden.

    Im gefährlich nahen Le Puy-en-Vilay herrschte der deutsche Kriegsverbrecher Klaus Barbie, der durch seine grausamen Verhörmethoden während des Zweiten Weltkriegs Berühmtheit als „Schlächter von Lyon“ erlangt hatte. Eines der Kinderheime, ein großes, so wird erzählt, wurde immer wieder telefonisch aus Le Puy gewarnt, wenn die Deutschen in der Nacht kommen wollten, um die Kinder abzuholen – was für diese den sicheren Tod bedeutet hätte. Das hat eine Weile gut funktioniert. Wer der anonyme Menschenfreund war, wusste niemand. Aber die Kinder liebten diese Nächte, ohne um die Gefahr zu wissen, weil spontan eine Nachtwanderung ins Programm genommen wurde.

    Einmal hatte ein Sechzehnjähriger eine Nacht bei einem französischen Mädchen verbracht. Als er im Morgengrauen ins Heim zurückkam, war keines der Kinder mehr da. Sie waren in der Nacht von Deutschen abgeholt worden. Diesmal hatte niemand gewarnt.

    Die Geschichte der Bürger Chambons samt den umliegenden Dörfern ist ein weltweites Vorbild für ethisches Verhalten, zivilen Ungehorsam und Menschlichkeit. Die Erlebnisse meiner Familie sind welche von tausenden. Sie wohnte zeitweise mit der Familie Schwam gemeinsam. In dieser Situation, in einem Versteck, wo weinende Babys ihre Familien verraten konnten, wurde ich im Mai 1944 (einen Monat vor D-Day) in einem kargen Bauernhaus geboren. Ich habe sogar eine offizielle Geburtsurkunde des Bürgermeisters. Im Geburtenregister der Gemeinde stehe ich als No. 22 dieses Jahres und mit der Adresse der Eltern. Was schon recht gewagt aussieht. Das haben sich die Deutschen nicht angesehen.

    Egon Mautner, der ältere Bruder des Autors. - © E. F. Mautner
    Egon Mautner, der ältere Bruder des Autors. – © E. F. Mautner

    André Trocmé später in seinen Erinnerungen: „Doktor Mautner kam aus Wien und hatte einen fürchterlichen Akzent. Er war sehr mutig. Während des ganzen Krieges machte er die Küche und den Haushalt, damit seine Frau als Näherin in Le Chambon arbeiten konnte. Sie lebten dort versteckt. Wir liehen ihr unsere Nähmaschine, die den ganzen Krieg über lief. Monsieur Mautner konnte nicht als Arzt arbeiten, aber seine Frau arbeitete heimlich als Näherin. Jede Woche kam er, um sich den Waschkessel auszuleihen, und die Kinder lachten, weil er dann sagte: ,Matam’ la lessifeuse, s’il fous plaît.‘“

    Meine Mutter hatte sich die Schneiderei beigebracht und letztlich mit mehreren Gehilfinnen für die Bürger der ganzen Umgebung, auch Damen aus Paris, geschneidert. Der Vater hat die ganze Emigrationszeit fotografisch festgehalten. Meine Familie hatte zeitweise gleichzeitig fünf verschiedene Unterkünfte gemietet, um je nach Bedrohung schnell den Ort wechseln beziehungsweise abtauchen zu können. Die Gendarmen, die natürlich besser Bescheid wussten als die Deutschen, praktizierten ihren Widerstand bisweilen auf ihre Art: Einmal rief einer meinen Vater an: „Herr Doktor, wir werden Sie morgen vormittags abholen!“

    Eines Tages kam mein damals noch kleiner Bruder heim und erzählte, dass ein freundlicher Soldat dem Kind übers Haar gestrichen hatte. Hätte ihn der Soldat etwas gefragt, hätte das seinen sicheren Tod bedeutet. Er durfte also nicht mehr Deutsch sprechen und wurde bei einer Bauernfamilie versteckt. Als wir 1946 nach Wien kamen, konnte er kein einziges Wort Deutsch – aber Kühe hüten.

    Die Leute, hauptsächlich einfache Bauern, waren wunderbar. Die Menschen haben alle geholfen, besonders engagiert war die dortige Armée du Salut, die Heilsarmee. Aber die Motivation und die Anleitung, der heilige Zorn, kam von Pastor Trocmé. Solange er in seinem kleinen Temple die Order ausgab, gab es zum Beispiel keine Résistance am Plateau. Es durften keine Waffen verwendet werden! Als er einmal für einige Zeit von den Soldaten aus dem Ort geholt wurde, waren die jungen Leute schnell unter Waffen.

    Gedenktafel an der Schule von Le Chambon sur Lignon. 
- © Pensées de Pascal / CC BY-SA 4.0 / https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 / via Wikimedia Commons
    Gedenktafel an der Schule von Le Chambon sur Lignon.- © Pensées de Pascal / CC BY-SA 4.0 / https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 / via Wikimedia Commons

    Über das Wunder von Chambon wurden seither Bücher und Studien veröffentlicht. Wobei auch andere Orte in Frankreich ähnlich aktiv waren. Weltweit wird dieses Phänomen wissenschaftlich untersucht, vor allem, warum sich (zuerst) der antisemitische État français des Vichy-Regimes und (dann) die deutsche Wehrmacht den gallischen Widerstand augenscheinlich hat gefallen lassen. In anderen von den Nazis eingenommen Städten wurde schon geringerer Widerstand brutal an die Wand gestellt. Eine plausible Erklärung für die scheinbare Nachlässigkeit könnte gewesen sein, dass die Wehrmacht den Ort und seine ordentliche Infrastruktur für die Rehabilitation ihrer an der Ostfront verletzten Offiziere brauchte. Chambon sur Lignon ist ein wertvoller Luftkurort. Daher auch bis heute die vielen Kinderheime.

    Als Gerechte geehrt

    Nach dem Krieg wurde Pastor André Trocmé in den Weltkirchenrat nach Genf berufen. Er starb vor rund 50 Jahren, am 5. Juni 1971: Wenige Monate zuvor wurden er und seine Frau Magda von Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. 32 weitere Bürger von Le Chambon sur Lignon wurden mit diesem Titel ausgezeichnet, und 1990 ehrte Yad Vashem das Dorf mit einer besonderen Urkunde in Anerkennung des menschlichen Verhaltens seiner Einwohner während des Krieges. Trocmés gewaltfreier Einsatz für den Frieden lässt ihn aus der Sicht von Historikern in einer Reihe mit Martin Luther King, Mutter Teresa und Mahatma Gandhi stehen.

    1949 kehrten Oskar und Malcie Schwam nach Wien zurück. Erich Schwam, mittlerweile zwanzig, blieb in Frankreich, schloss sein Studium ab, heiratete und machte Karriere in der Pharmaindustrie. Am 25. Dezember 2020 starb er in Lyon und hinterließ ein Testament, das die Welt auf Le Chambon sur Lignon und seine Bevölkerung aufmerksam werden ließ.

    Erich Félix Mautner ist Autor und Journalist. Er schreibt hauptsächlich zu Themen aus Kunst und Recht und hat 50 Jahre lang eine Künstleragentur betrieben.